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Foto: Stephen Weyh
Foto: Stephen Weyh

Staatsanwalt Wiese und der Auschwitz-Prozess

Der Prozess seines Lebens

Er war einer der drei Staatsanwälte im Frankfurter Auschwitz-Prozess. Gerhard Wiese, heute 86 Jahre alt, war der Jüngste in dem Ankläger-Trio, als am 20. Dezember 1963 das Strafverfahren eröffnet wurde.
Er gilt als erstrangiger Zeitzeuge des bahnbrechenden Verfahrens, das längst zu historischer Bedeutung gelangt ist. Nun steht Gerhard Wiese im Mittelpunkt eines Films. „Im Labyrinth des Schweigens“ (Regie: Giulio Ricciarelli) ist der Titel eines Deutschen Filmdramas, das die Vorgeschichte des Frankfurter Auschwitz-Prozesses thematisiert.

Klare Stimme, kritischer Blick – so tritt Gerhard Wiese dem Besucher gegenüber. Mit Gästen kennt er sich aus. Es waren etliche, die er in jüngster Zeit in seinem gepflegten Haus im Dornbusch empfangen hat. Alle wollten sie das Wertvollste, das er zu bieten hat: Informationen aus erster Hand. Sie wollten von ihm authentisch erfahren, wie es damals war, als er den Angeklagten gegenüber saß, den KZ-Aufsehern, dem Arzt, den Vollstreckern der unmenschlichsten Verbrechen. Wie es war, mehr als 16.000 Seiten Papier zu durchforsten: Lagerakten, Totenbücher, Bestellscheine für Giftgas und –spritzen. Wie es war, schließlich eine mehr als 700 Seiten umfassende Anklageschrift zu verfassen und selbst auf der Schreibmaschine abzutippen. Aus Australien gar sei unlängst ein junger Wissenschaftler angereist, um für seine Dissertation Details zu erfragen, merkt Gerhard Wiese nebenbei an.

Größter Prozess der Nachkriegsgeschichte
Der pensionierte Oberstaatsanwalt bittet Besucher in seine Bibliothek, bietet Platz an einem mächtigen Tisch aus Wurzelholz an, setzt sich dem Gast gegenüber. Er wartet geduldig auf die erste Frage. Das Thema des Gesprächs ist ja ohnehin klar. Es geht um den Prozess vor 50 Jahren, den größten Prozess der Nachkriegsgeschichte, der allein deshalb schon so außergewöhnlich war, weil er in keinen Gerichtssaal passte. Zu viel Personal, zu viele Angeklagte und andere Verfahrensbeteiligte selbst für den größten Raum im Frankfurter Justizkomplex. Das müsse man sich mal vorstellen: Es sei da zunächst das Schwurgericht mit drei Richtern und sechs Geschworenen, zwei Ergänzungsrichtern und fünf Ergänzungsgeschworenen gewesen. Die Staatsanwaltschaft war mit vier Kräften vertreten, eine davon sei er selbst gewesen. Eine Anzahl von 22 Angeklagte und deren Verteidiger seien unterzubringen gewesen, und schließlich die drei Rechtsvertreter der insgesamt 21 Nebenkläger. Also zog dieser gigantische Tross in den Römer ein. Das auch im Ausland wohl meist beachtete Strafverfahren der Nachkriegszeit wurde im Plenarsaal eröffnet. Im April 1964 zog das Gericht dann in das neuerbaute Bürgerhaus Gallus um, wo der Prozess bis zur Urteilsverkündung im August 1965 fortgesetzt wurde. Die Saalbau habe das Haus umbauen lassen. „Schließlich musste dort erst ausreichend Platz für die 87 Prozessbeteiligten, Zuhörer und Pressevertreter geschaffen werden“, sagt Wiese. Im Untergeschoss des Bürgerhauses seien ausbruchsichere Räume geschaffen worden, in denen die Angeklagten vor Beginn der Verhandlung und in den Pausen untergebracht wurden.

Beweisstücke gefunden
Wer mit Gerhard Wiese spricht, erfährt, dass dieser gigantische Prozess überhaupt erst möglich wurde durch zwei höchst unterschiedliche Männer: den Frankfurter Journalisten Thomas Gnielka und den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Gnielka hatte Anfang des Jahres 1959 Bauer als oberstem Ankläger des Landes sieben Schreiben zugeschickt, die er bei Recherchen entdeckt hatte. Es waren Erschießungslisten aus dem Lager Auschwitz, die detailliert die Tötung von Häftlingen dokumentierte und die ein Holocaust-Überlebender gleichsam als „Souvenir“ aus dem brennenden Breslauer SS- und Polizeigericht mitgenommen hatte. Unterzeichnet waren sie vom Lagerkommandanten Rudolf Höß und seinem Adjutanten Robert Mulka. Diese Beweisstücke leitete Bauer an den Bundesgerichtshof und an die Zentrale Stelle in Ludwigsburg weiter. Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom April 1959, den Gerichtsstand beim Landgericht Frankfurt zu bestimmen, leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen Auschwitz-Personal ein. Stuttgart und Ludwigsburg gaben ihre Verfahren nach Frankfurt ab.

Ein Rest Bitterkeit
Der Frankfurter Staatsanwaltschaft gelang es unter anderem den letzten Kommandanten von Auschwitz, Richard Baer, den Lager-Adjutanten Robert Mulka, und weitere Auschwitz-Täter ausfindig zu machen. Baer musste sich vor Gericht indessen nicht mehr verantworten. Er starb im August 1963 in der Untersuchungshaft. „Ich hatte Bereitschaftsdienst und bekam einen Anruf aus dem Gefängnis, dass Baer verstorben sei“, erinnert sich Gerhard Wiese. Es sei ein heißer Sommer gewesen, und der Mann habe „schwere Herzprobleme“ gehabt. Fragt man Gerhard Wiese nach einzelnen Angeklagten, weiß er Erschreckendes zu berichten: „Sie konnten nicht leugnen, dass sie in Auschwitz waren, aber sie bezeichneten sich als unschuldig. Mulka etwa wollte von nichts gewusst haben.“ Er wurde am Ende zu 14 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. „Wo es keine Zeugen mehr gab, die jeden einzelnen Vorwurf bezeugen konnten, gab es am Ende auch Freisprüche.“ Wie etwa für den Lagerarzt Franz Lucas. Gerhard Wiese berichtet von dem Ortstermin in Auschwitz am 14. Dezember 1964, an dem Lucas teilgenommen und in seiner ruhigen Art dem Gericht detailliert die mörderischen Abläufe im Lager geschildert habe. „Sein Verteidiger war dabei und hat aufgepasst, dass sein Mandant sich nicht verplapperte“, sagt Wiese, und wer genau hinhört, mag eine Spur Bitterkeit heraushören.

Distanz zum Grauen wahren
Nun ist der pensionierte Oberstaatsanwalt offenbar kein Mann, der zu Gefühlsäußerungen neigt. Wenn er von den Zeugenaussagen der Holocaust-Opfer vor Gericht als „bewegend“ spricht, darf man annehmen, dass sie herzzerreißend waren. Wenn er sagt „da ist man berührt“, dann dürfte es ihm ins Innerste gegangen sein. Wenn er davon spricht, dass es für ihn nach einem Arbeitstag im Angesicht des Grauens „nicht immer ganz einfach“ gewesen sei, dies alles nicht mit nach Hause zu nehmen, wo Frau und die kleine Tochter auf ihn warteten, dann ahnt man, dass er mitunter Höllenqualen litt. „Das war schließlich mein allgemeiner Arbeitstag“, sagt er. Gerhard Wiese schafft mit seiner stringenten Sprache Distanz zum unvorstellbaren Grauen, das ihn Zeit seines Berufslebens begleitete und das, gewollt oder nicht, zu seinem Lebensthema wurde. „Es war der Prozess meines Lebens“, sagt er. Jegliches Pathos fehlt dem Satz, er ist wie eine Bilanz. Gerhard Wiese ist gebürtiger Berliner und lebt mit seiner Frau im Dornbusch. Er hat zwei Töchter, einen Sohn und sechs Enkel. Den Kontakt zur Frankfurter Staatsanwaltschaft hat er auch nach seiner Pensionierung nicht verloren. Wiese hält Vorträge auf Einladung von Universitäten zum Thema Auschwitz-Prozess. Als Gasthörer an der Goethe-Universität beschäftigt er sich mit Geschichte.

Im Labyrinth des Schweigens
Und genau diese kommt jetzt auch ins Kino. Im Film „Das Labyrinth des Schweigens“ heißt der Staatsanwalt Johann Radmann (dargestellt von Alexander Fehling), und er sagt Sätze wie diesen: „Ich will, dass die Lügen und dieses Schwiegen endlich aufhören.“ Könnte das ein Satz vom jungen Ermittler Gerhard Wiese sein? Der alte Gerhard Wiese schüttelt bedächtig den Kopf. „Das ist filmisch. Der Protagonist Radmann in dem Film bin ja nicht ich, das ist eine Kunstfigur.“ Wiese hat den Film gesehen. Vor wenigen Wochen habe man ihn zu einer Einzelvorführung nach Niederrad gebeten. „Es ist ein Spielfilm, der mit unserer Arbeit damals nichts zu tun hat.“ Seine Premiere hatte der Film beim Toronto International Film Festival am 6. September. In den deutschen Kinos läuft er am 6. November an.
 
30. Oktober 2014, 11.23 Uhr
Sylvia A. Menzdorf/PIA
 
 
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